Ein grünes Labor für die Großstadt (FAZ-Artikel vom 14.3.2021)

14.03.2021

In Wien entsteht ein Modellprojekt für nachhaltiges Wohnen. Das Viertel Zwei soll Energie sparen und wird dafür schon als Klimavorbild gelobt.

Mehr Grün und mehr Umweltbewusstsein sind wichtige Ziele der Stadtplanung von heute. Dafür liefert Wien ein Beispiel mit einem im 2. Bezirk angesiedelten gleichnamigen Viertel. Das soll Standards in Energieeffizienz, nachhaltigem Bauen und vor allem Bewirtschaften setzen. Hier finden sich futuristische Bürotürme wie jenes des österreichischen Petrochemieriesen OMV. Zudem leben und arbeiten dort mehr als 7000 Menschen. Bis 2022 werden mehr als 10 000 Menschen ihr Leben und ihre Arbeit direkt am Grünen Prater verbinden. Auf einer Gesamtfläche von mehr als 120 000 Quadratmetern brachte die Entwicklungsgesellschaft Value One vor mehr als einem Jahrzehnt Büro- und Geschäftsflächen, Wohnungen, Studentenunterkünfte und Hotels mit zusammen 320 000 Quadratmetern unter. Zwischen den Gebäuden wurde ein 5000 Quadratmeter großer künstlicher See angelegt.

Das Besondere am Viertel Zwei ist die Verbindung von Alt und Neu: Historischen Altbestand sehen die Entwickler als identitätsstiftenden Anker. Der entstandene Nutzungsmix zwischen Wohnen, Büro, Kindergarten, Studentenappartements, Nahversorger und Gastronomie scheint ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Quartiersentwicklung. Bei der Planung wurden Mikroklima, Freiräume und Wasserflächen mitgedacht. So verfügt das Viertel Zwei durch den See, zahlreiche Bäume und teilweise begrünte Fassaden über eine natürliche Kühlung.

Mit einem Niedertemperatur-Wärmeverteilnetz (Anergienetz "Energie Krieau") wurde eine Energieversorgung für Kühlung und Heizung geschaffen - einmalig in Österreich. Das soll fast drei Viertel der Kohlendioxidemissionen im Jahr sparen und das Viertel Zwei zum nachhaltigsten Teil der Stadt machen. Auch international sorgt dies für Aufmerksamkeit: Der Breakthrough Energy Fund von Bill Gates nennt es in seiner "Fit for Net-Zero"-Studie ein Vorzeigeprojekt, um die europäischen Klimaziele zu erreichen. Auch sei das Anergienetz Energie Krieau das einzig schon umgesetzte Projekt für "Low-temperature-district- heating", heißt es in der Analyse.

Immobilienforscher Wolfgang Amann, Geschäftsführer des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen GmbH in Wien, bewertet das Viertel Zwei als Leuchtturmprojekt. Vergleichbares sieht er im dorfartigen "Eco-quartier" in Paris Clichy-Batignolles, wo auf dem Gelände eines alten Güterbahnhofs 3500 Wohnungen entstanden.

Entstanden ist das größte Anergienetz Österreichs in Zusammenarbeit von Value One und Bau-Consult Energy. "Es war uns von Beginn an sehr wichtig, unsere Vision einer nachhaltigen und grünen Zukunft im Viertel Zwei zu realisieren. Autofrei und mit hohem Grün- und Wasseranteil, haben wir uns entschieden, bei der Energie einen komplett neuen Weg einzuschlagen," sagt Walter Hammertinger, Geschäftsführender Gesellschafter von Value One Development.

Durch die Nutzung der vor Ort vorhandenen erneuerbaren Energiequellen, den Energieverbund von mehreren Gebäuden im Quartier, gehe keine Energie verloren, sondern werde gespeichert und wiederverwendet. "Bei der Wärme- und Kälteversorgung von Wohn- und Gewerbeimmobilien wird durch das Zusammenspiel von Geothermie, Grundwasser- und Abwärmenutzung sowie Photovoltaik eine nennenswerte Ersparnis von Kohlendioxid von 800 bis 1000 Tonnen im Jahr erreicht", sagt Herbert Hetzel, Gründer der Bau-Consult Energy.

Direkt am Prater, der grünen Lunge Wiens, gelegen, versucht sich so mancher daran, die Energiewende mit Blockchain-Anwendungen zu verbinden. Dabei geht es um eine kontinuierlich erweiterbare Liste von Datensätzen, Blöcke genannt, die mittels kryptographischer Verfahren miteinander verkettet sind. Sie erlaubt die dezentrale Speicherung von Daten ohne Mittelsmänner. Anrainer erzeugen ihre Energie selbst - mit einer Photovoltaikanlage. Außerdem teilen sie den Sonnenstrom mit ihren Nachbarn. Künftig bevorraten sie ihn im Quartierspeicher. Zudem kaufen und verkaufen sie die nicht verbrauchte Kilowattstunde an der Strombörse oder geben die Energie für Stromtankstellen im Quartier frei.

Federführend dabei ist der größte regionale Energieversorger Österreichs, Wien Energie, mit einer starken Ausrichtung auf sauberen Strom. Dessen Geschäftsführer Michael Strebl sagt, dass der lokal erzeugte Strom je nach Bedarf unter den Bewohnern aufgeteilt wird: "Wenn keiner den Strom nutzt, wird der Strom weiterverkauft oder anderweitig verwendet." Mittels Blockchain könne das künftig automatisch über ein Energiemanagement und nach ökonomischen oder ökologischen Kriterien passieren. Oberstes Ziel sei, Wien langfristig so gut es geht kohlendioxidfrei zu machen.

Über eine eigene App am Smartphone lässt sich der Strombezug bequem steuern. Wer verreist, kann in dieser Zeit seinen Sonnenstromanteil den Nachbarn verkaufen. So wird der wertvolle Ökostrom effizient und lokal genutzt. Ein zusätzlicher Vorteil sind verringerte Netzgebühren und damit geringere Energiekosten.

Zu den Bestandteilen der Energiegemeinschaft gehören neben der Steuerung über Benutzerfläche der Handel durch Blockchain-Infrastruktur und eine lokale Photovoltaikanlage. Außerdem sind E-Ladestellen, eine Glasfaserverkabelung bis in die Wohnung sowie ein Quartierspeicher einschließlich Energiemanagement und die Wärmeversorgung Teil der Anwendung. Dass das Projekt in Wien stattfindet, hat seinen Grund in der Offenheit der Stadtverwaltung für solche Technikanwendungen.

Unabhängig von ihrem Umweltbewusstsein fragen sich künftige Bewohner des Viertels Zwei, wie leistbar das ist vergleichbar mit anderen Stadtteilen. Dazu sagt Walter Hammertinger: "Investitionen in innovative und nachhaltige Entwicklungen sind für uns als Immobilienentwickler mit Risiko und Aufwand verbunden. Für den Endkunden ist das nicht spürbar, denn er bezieht Energie zu marktüblichen Konditionen." Für den Kunden entstünden am Ende die gleichen Kosten wie für Fernwärme. Wohnungen kosten seinen Angaben zufolge 6000 Euro je Quadratmeter. Das sei im modernen frei finanzierten Wohnbau vergleichbar mit anderen Stadtteilen der Donaumetropole. Geographisch ist das Viertel begrenzt. Schlussstein ist 2024 mit zwei Hochhäusern.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), 12.03.2021, Michaela Seiser (Wien) Immobilien (Immobilienmarkt), Seite I1 -
Ausgabe D1, D2, D3, R - 854 Wörter
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